Über Storytelling wird viel erzählt. Trotzdem wirkt es – aber es gibt dabei einiges zu beachten.
Exposition: Mythos Storytelling?
„Storytelling“ im Marketing ist in aller Munde. Ich persönlich finde das Thema auch sehr spannend (mit einer Untersuchung zu narrativen Strukturen habe ich mal vor vielen Jahren promoviert).
Allerdings kann ich mit der Verwendung des Begriffs „Storytelling“ in vielen Marketing-Kontexten nicht viel anfangen. Denn der Anspruch seiner lautesten Verfechter ist ziemlich umfassend: Marketing soll wesentlich Content-Marketing und dieses wiederum soll Storytelling sein. Aber gilt das Prinzip tatsächlich für alle Aspekte und Formate der Kommunikation? Und wie genau setze ich das jeweils um? Und lohnt sich das auch, oder sind die versprochenen Segnungen der Methode vielleicht nur ein Mythos? So beschließe ich, mich auf die Suche nach dem tatsächlichen Sinn von „Storytelling“ zu begeben.
Konfrontation: Was ist eigentlich eine Story?
Die erste Etappe meiner Reise führt mich zu meinem Bücherregal. Ich habe da noch ein paar Fachbücher, die sich mit der Storytelling-Methode befassen. Schauen wir doch mal, was die Marketing-Experten sagen.
Zunächst fällt mir auf, dass manche Storytelling-Fachbücher den Begriff „Story“ gar nicht definieren. Nehmen wir zum Beispiel „Epic Content Marketing“ von Joe Pulizzi, dem Gründer des Content Marketing Institute. Bei ihm scheinen „Geschichten“ allgemein für fesselnde Inhalte zu stehen, die eine Zielgruppe ansprechen, informieren oder unterhalten. Das Buch gibt viele wertvolle Tipps für das Content-Marketing, aber „Storytelling“ erhellt es nicht unbedingt. Und dann ist da noch das Vorwort von Michael Brenner, Ex-Marketing-Chef von SAP. Der erzählt, dass sein Konzern kommunikative Herausforderungen durch Geschichten löse – „Geschichten nicht über das, was wir verkaufen, sondern Geschichten, die erklären, was wir für unsere Kunden tun“ – und das es heute möglich sei, „Geschichten in nur 140 Zeichen und sechs Sekunden langen Videos zu erzählen“. Das geht?
Meine nächstes Buch heißt „Die Storytelling-Methode: Schritt für Schritt zu einer überzeugenden, authentischen und nachhaltigen Marketing-Kommunikation“. Genau das Richtige? Aber auch diese Autorin hält eine Begriffsbestimmung von Erzählen oder Story nicht für nötig. Zumindest implizit geht es jedenfalls um Handlungen, Geschehnisse, Figuren mit Motivationen. Sie fordert vom Storytelling Sinnlichkeit, Authentizität und Relevanz. Das scheint mir sinnvoll, dürfte aber wohl für Content-Marketing allgemein gelten. Und sie propagiert die Nutzung von „Archetypen“, als „mentale Deutungsschablonen“ für Situationen und Figuren in Geschichten. Diejenigen, die sie konkret nennt (Schöpfer, Zauberer, Hexe, Held etc.), finde ich aber größtenteils fragwürdig.
Komplikation: Der nächste Versuch
Also muss ich wohl weiterziehen und meine Suche fortsetzen. Nun soll mich meine Reise ins World Wide Web führen. Denn hier herrscht Google, der strenge Gott des Contents: Wenn ich als Suchanfrage „storytelling marketing“ eingebe, wird er mich, gesteuert von intelligenten Algorithmen, unfehlbar zu den wahrhaft relevanten Inhalten zum Thema führen, stimmt’s?
Ungefähr 95 Millionen Suchergebnisse passen zu meiner Anfrage. Die gemäß Google relevantesten Inhalte stammen von SEO- und Content-Agenturen. Und das erfahre ich: Wer für seine Zielgruppe von Bedeutung sein will, muss Storytelling betreiben. Denn so erhalten Marken ein Gesicht, stiften Sinn, vermitteln Informationen leichter und verknüpfen sie mit Emotionen. Das finde ich spannend; ich will mehr wissen.
Retardation*: Story-Struktur
Was eine Story ist, erfahre ich zwar nicht. Aber wie sie aufgebaut sein soll: Es braucht eine Handlung mit identifikationsfähigen Protagonisten (mindestens einem), einem Problem und der Herbeiführung einer Auflösung (die Problemlösung gelingt oder scheitert). Gefordert wird ein Spannungsbogen: Konfliktaufbau, Steigerung, Höhepunkt, Wendepunkt, Auflösung des Konflikts. Ich glaube, damit kann man arbeiten. Aber ob das alles in 140 Zeichen passt?
Dann kommen Beispiele, und ich bin enttäuscht: Da sind natürlich ein paar Anwendergeschichten, vor allem aber Videos – meist Werbespots. Klar: Anwender-Erfolgsgeschichten sind in der Regel überzeugender als Produktprospekte. Und Werbung hat die „emotionale Ansprache“ per Story längst perfektioniert. Heißt das nun aber, dass ich mein Content-Marketing vornehmlich auf Bewegtbildinhalte umstellen soll? Nie wieder Fachartikel, News-Meldungen, Whitepaper, fachbezogene Blogbeiträge? Und warum erzählen eigentlich die Webtexte der Storytelling-Evangelisten selbst keine Geschichten? Wären sie dann vielleicht bei Google nicht auf Seite 1?
Höhepunkt und Krise: Lohnt sich das überhaupt?
Gut und schön – aber nun die entscheidende Frage: Warum der ganze Aufwand? Um die Wirkung von Storytelling zu belegen, führen manche Autoren, leider meist verkürzt und wenig überzeugend, die kognitive Psychologie ins Feld. Immer mal wieder begegnet mir Dan McAdams, Psychologie-Professor an der Northwestern University in Illinois, und das Konzept der „Narrative Identity“. Das hat aber mit marketingfähigen Storys wenig zu tun; es beschäftigt sich mit Forschungen dazu, wie Menschen fortlaufend ihre persönliche Lebensgeschichte und ihre eigene Rolle in dieser Geschichte konstruieren, um ihrem (Er-)Leben Einheit und Sinn zu verleihen.
Andere verweisen auf die Anwendung von Storytelling bei der einfachen und nachhaltigen Wissensvermittlung. Das kann ich nachvollziehen: Je anschaulicher ein komplexes Produkt oder ein Service dargestellt wird, je stärker konkrete Anwender und Problemlösungen für sie im Mittelpunkt stehen, desto erfolgreicher sind die jeweiligen Inhalte. Aber soll ich dafür jetzt mein Marketing auf Storys umstellen?
Wendepunkt: Deus ex machina
Okay, ich gestehe es: Ich habe mich nicht wirklich auf diese Reise begeben. Nach über 20 Jahren Marketing- und Content-Arbeit und begleitendem Nachdenken habe ich auch so eine recht gute Vorstellung, wann welches Gestaltungsmittel wirken kann und wann nicht. Ich habe mich vielmehr testweise in die Rolle eines Marketers versetzt, der mehr über den Mythos Storytelling in Erfahrung bringen will. Denn die Gefahr, auf der Suche nach dem „Sinn“ dahinter in Sackgassen zu geraten, ist groß.
Deshalb kann ich jetzt den „Gott aus der Maschine“ spielen und einen Ausweg zeigen. Der Deus ex machina mischte sich, auf einem Hebekran schwebend, in die Handlung der antiken Tragödie ein, wenn ein Konflikt nicht mehr lösbar schien. Das Prinzip funktioniert aber mit jeder überraschenden Problemlösung: durch unerwartete Botschaften oder Hilfe im letzten Augenblick – und in Werbespots auch gern durch die beworbene Marke.
Was also halten wir bei unlimited vom Storytelling?
Wie so oft, ist die Sache etwas komplizierter, als es in SEO-optimierten Texten und vielen Marketingbüchern den Anschein hat. Natürlich wirken Storys, im Alltag, in Film und Literatur und auch im Marketing. Denn sie imitieren die Strukturen, in denen wir auch unser Handeln und Erleben ordnen. Bewährtes Handlungswissen wird seit Jahrtausenden in Geschichtenform weitergegeben: Wenn du in einer bestimmten Situation etwas so und so tust, passiert häufig dies und das. Damit sind wir von klein auf vertraut, vor allem aber natürlich mit den zahllosen Geschichten, die wir rezipieren, um sie zu genießen und uns die Zeit zu vertreiben. Also ja: Storytelling funktioniert.
Aber: Wir werden täglich mit Tausenden von Geschichten und anderen Botschaften konfrontiert, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Wenn unsere Adressaten nach Lösungen für ihre Probleme suchen, nehmen sie sich meist nicht die Zeit für lange Geschichten. Sie tun das nur, wenn ihnen sehr schnell klar wird, dass sich der Aufwand lohnt, oder wenn sie uns schon kennen und an unseren Inhalten sowieso interessiert sind. Kurz: Dass unsere Zielgruppen bereit sind, sich auf unsere Geschichten einzulassen, ist ein Privileg, das wir uns erst erarbeiten müssen.
Lösung: Explizites und implizites Storytelling
Für dieses Problem gibt es zwei Lösungswege, die sich ergänzen.
Erstens: explizites Storytelling, langfristig geplant und durchgehalten, realisiert immer dann, wenn Content-Typ und mediales Umfeld das erlauben. Voraussetzung dafür ist, dass die Story relevant für die Zielgruppe ist, d.h. Lösungen für ihre Probleme anbietet.
Zweitens: implizites Storytelling. Dabei aktiviert ein beliebiger Inhalt – auch ein Tweet, Slogan oder Bild – eine Geschichte, die den Rezipienten schon bekannt ist. Die Geschichte ist ihnen bekannt, weil wir sie bereits (immer wieder) erzählt haben (siehe explizites Storytelling). Oder die Adressaten kennen sie, weil es ihre eigene ist. Dafür muss es unseren Inhalten gelingen, erstens bei den Rezipienten den Kontext eigener Problemlösungsversuche zu aktivieren und zweitens unser Angebot überzeugend als Lösung ins Spiel zu bringen. Das geht auch in 140 Zeichen – aber in der Regel nur, wenn einige Elemente dieser Geschichte bereits anderweitig kommuniziert wurden oder werden.
Klingt kompliziert? Ist es auch. Deshalb werden wir uns hier sicher bald wieder mit diesem Thema befassen. Für heute lautet das Fazit: Storytelling? Unbedingt? Mit jedem Content? Ja, aber nicht immer explizit. Jeder Content-Typ hat seine Stärken, und bei vielen – zum Beispiel Whitepapern, Glossareinträgen, Newsmeldungen oder Blogbeiträgen – gehört das Storytelling nicht unbedingt dazu. Was hilft, ist ein Plan: eine übergeordnete Content-Strategie mit definierten Basis-Storys, die dafür sorgt, dass verschiedene Inhalte sich ergänzen und so immer wieder Ihre Geschichten erzählen.
* Die Verzögerung soll v. a. in Tragödien durch Andeutung einer alternativen Lösung die Spannung steigern, bevor dann das Unglück seinen Lauf nimmt.
Autor: Dr. Michael Richter, Leitung Text/Konzeption
Titelbild: © istockphoto, guvendemir